Der Lawinenwinter 1919 in Graubünden

“Dezember. Häufige und ausserordentlich reichliche Niederschläge. In den Bergen sammelten sich ungeheure Schneemassen an. In den tieferen Lagen wechselten die Schneefälle oft mit Regen.

Gewaltige Schneefälle erfolgten besonders am 22. und 23., bei nur geringer Kälte, welche dann in intensives Tauwetter überging. In Chur hatte sich innert diesen beiden Tagen eine Neuschneeschicht von 46 cm gelegt; aber bereits am 23. abends ging daselbst der Schneefall in Regen über.

Durch die Schneefälle vom 22. und 23. wurde vielerorts im Kanton der Verkehr gestört oder unterbrochen. Auch lösten sich in den Bergen ausserordentlich viele Lawinen; welche mancher Talschaft Schaden und schweres Unglück brachten.

Über die Lawinenstürze in Davos, welche zu einer Katastrophe führten, der sechs Menschenleben zum Opfer fielen, entnehmen wir der „Davoser Zeitung" nachstehende Einzelheiten:
An den weiten, kahlen Hängen, die sich vom Dorfberg und dem Schiahorn gegen Davos-Dorf herunterziehen, sind am 23. nachmittags zwischen 2 und 3 Uhr die dort angesammelten Schneemassen in Bewegung geraten und mit der ungeheuren Schnelligkeit und Gewalt der Staublawine zu Tale gestürzt, die Luft mit Riesendruck vor sich herschiebend: Am Bergabhang oberhalb des Südendes des Davoser Sees ging die eine dieser Lawinen nieder und teilte sich auf der Bergterrasse, auf der vorn das „Chateau Brüxelles" steht, in zwei Hälften, von denen dann die eine hinunter in den See fuhr und die Eisdecke einschlug, die andere Richtung gegen die Brauerei Davos nahm. Im Garten des Chateau Brüxelles wurden die beiden Knechte vort der Lawine erfasst und konnten nur als Leichen geborgen werden. Weiter talabwärts stürzte eine Lawine von Schiawang hinunter nach dem Sanatorium Davos-Dorf, der Pension Germania und dem Bergsanatorium in Davos-Dorf und bis auf die Landstrasse.
Oben im Sanatorium Davos-Dorf und in der Pension Germania hatte der Luftdruck zuerst sämtliche Fenster und Türen bergseits eingedrückt. Durch die dadurch entstandenen Öffnungen drangen die Schneemassen, ohne die Aussenmauern zu verletzen, ins Innere der Häuser, Türen und schwächere Zwischenwände wurden gesprengt und die auf der Bergseite gelegenen Zimmer und Gesellschaftsräume der untern Stockwerke sowie Küchen und Keller füllten sich bis hoch hinauf mit Schnee, der in Treppenhäusern und Liftschächten willkommene Kanäle fand, und an manchen Stellen bis in die auf der Talseite liegenden Räumlichkeiten vordrang. In beiden Häusern wurde eine Anzahl Personen aus dem Schnee gerettet. Zwei Personen waren bereits tot, mehrere schwer verletzt.

Ausserhalb des Schiabaches auf Gebiet von Davos-Platz sind im Zeitabstand von einer Stunde noch zwei weitere Lawinen niedergegangen. Beide kamen aus dem Schiatobel. Die erste verliess das Bachbett oberhalb der unteren Waldgrenze und riss einen stattlichen Jungwald mit sich. Durch diesen gebahnten Weg stürzte sich eine Stunde später die zweite Lawine herunter auf das jüdische Sanatorium, die Villa Surlava usw. Auch diese Lawine kam herunter bis auf die Landstrasse. Sie verschüttete nach dem Niedergang der ersten Lawine herbeigeeilte Leute, von denen zwei ums Leben kamen. Die Hauptunglücksstellen in Davos-Dorf und Davos-Platz liegen auf beiden Seiten des Schiabaches, welche Gegend Horlaubenen = Hornlawinen heisst (Lawinen vom Schiahorn). Die alten Davoser bezeichneten dieses Gebiet von jeher als lawinengefährlich. Die letzte grosse Lawine soll dort im Jahre 1817 niedergegangen sein.

Im unteren Teile der Landschaft Davos sind der Rotschzug und die Tavernalawine in ungewöhnlichem Ausmasse auf die Rhätische Bahn gestürzt und sperrten die Linie.

In St. Antönien ging am 23. nachmittags vom Tschatschuggen eine Staublawine nieder und zerstörte einige Ställe.
Am 24. morgens 4 Uhr wurden die Talbewohner durch ein furchtbares Krachen aufgeschreckt; an der Strasse zwischen Castels und Rütti hatte die Künilawine Haus und Stall des Gemeindepräsidenten Valentin Flütsch in den „Gädmen" verschüttet. Herr Flütsch konnte wunderbarerweise lebend aus den Trümmern befreit werden, dagegen fand man die 77jährige Grossmutter tot. Auch ein Teil der Viehhabe wurde getötet.
Weiter taleinwärts hatte die Lawine einen Stall obenüber geworfen, das Haus umgedreht und hoch hinauf den Schnee eingepresst. Gegen Partnun hin wurde das Heimwesen „Gademji" verschüttet. Der Talbach war 16 Stunden gestaut, bis er sich wieder einen Weg gebahnt hatte. Im ganzen sind in St. Antonien durch die Lawinen 23 Firsten zerstört worden. Einen solchen Schneefall hatte das Tal seit dem Jahre 1874 nie mehr.

Ob Saas löste sich am 24. morgens 4 Uhr an der Rätschenfluh eine mächtige Staublawine, fegte ein Stück Wald weg und zertrümmerte 6 Ställe. Ein junger Mann mit seiner Viehhabe fiel ihr zum Opfer. Von dorther stürzte im Jahre 1689 auch die grosse Lawine, welche einen Teil des Dorfes begraben hatte.

Im Safiental wurde ein Holzfuhrwerk mit drei Mann und drei Pferden zwischen Ekschi-Tenna und Neukirch von einer Lawine fortgerissen. Ein Mann und 1 Pferd mussten dabei ihr Leben lassen.

In den Heubergen von Pitasch wurden 18 Heuschober von einer Staublawine in die Tiefe gerissen."
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Quelle Naturchronik 1919. Jahresbericht der Naturforschenden Gesellschaft Graubünden. Band 60 (1919-1921)