Der Lawinenwinter 1749 in der Surselva

Im Februar 1749 starben in der oberen Surselva (Rueras, Zarcuns, Disentis) 75 Menschen, etwa 120 Gebäude wurden zerstört.

Im Jahr 1805, also mehr als ein halbes Jahrhundert nach den Ereignissen von 1749, verfasste Pater Placidus a Spescha im Kloster Disentis einen ausführlichen Bericht über die Lawinenabgänge:

«Das Jahr 1749 war schneereich. Schon beym Eingang des Winters fiel ein beträchtlicher Schnee, welcher die Ungleichheiten der Thalseiten ausebnete. Der Südwind blies, und der Schnee setzte sich; dann erfolgte kalte Witterung, und der Schnee ward erhärtet.

Den 4. des Hornung [Februar] fieng es an zu schneien und es schneite unaufhörlich 48 Stund. Der Schnee lag schon klafterhoch. Am Abend des 6. des Hornungs riss sich die Lauine von der Valaça und stäubte bis gen Mila her, wo dem Vieh und einem Mann die Stallthüre so verammelt wurde, dass man durch ein eingesägtes Loch in die hintere Wand des Stalls den Mann losmachen musste.

Nach Aussag der Alten – welches den Leuten bekannt war – war die Lauine der Valaça ein Vorzeichen der Lauinen der Pulanära und Mila, die von Norden her droheten. Man kehrte sich an die Aussagen der Alten zu wenig und schlief in der Gefahr ruhig ein. Um 1/2 10 Uhr aber, da alles ruhete, begann das Unglück und war schröcklich.

Die Schneelauinen von der Pulanära und Mila rissen sich gleichzeitig los, überfielen das Dorf Ruäras so gewalthätig, dass davon 23 Häuser d. i. 46 Feuerstätten, 33 Speicher, 39 Ställe, 5 Mühlen und 1 Säge, 237 kleine und grosse Thiere und über 100 Personen zugedeckt und bis an den Rhein und noch darüber fortgerissen wurden.

Von den erwachsenen Personen blieben 44 und von den andern 20, folglich 64 tod. Ein Klagelied über diesen betrübten Gegenstand setzt die Zahl der Todten auf 72 an. Vielleicht sind jene von Sarcuns [Zarcuns] mitgezählt.

Als der dortmalige Seelsorger von Tavätsch das Unglück durch den Schall der Sturmglöcklein von Ruäras vernahm, nahm er 5 Männer
zu sich und gieng dahin. Sie waren an dem Weiler Sarcuns noch nicht vorüber, als die Schneelauine von der Endadusa [Londadusa] loskrachte und auch die wohlthätigen Menschen mit in das Unglück verwickelte. Drey derer, die voran wateten, riss sie fort; zwei retteten sich unter einen Stall, darin Vieh lag. Der Stall wurde bis an die Dille [Diele] überworfen und erdruckte den Seelsorger darunter. – Er nannte sich: Jacob Biart. Nach seinem Tod nannte man ihn: Sur Jacob de la Lavina d. i. der Herr Jacob von der Lauine.

Wer die Scheidung der Kinder von den Ältern, der Ehegatten von den Ehegattinnen, der Liebenden von den Geliebten, die Trennung der Ewigkeit von der Zeit und den unbeschreiblichen Eifer des Seelsorgers gegen seine Verunglückten mit Bedachtsamkeit und Menschengefühl überlegt, dem muss sein Herz vor Mitleiden übergehen. Berge und Thäler ertönten von dem Geschrey, das sich beym Begräbniss dieser Verunglückten hören liess; denn keiner der Anwesenden war da, der seine Freunde und Anverwandte nicht beweinte.

Viele der Menschen und Thiere, die unter dem Schutte lagen, wurden beschädigt und verlahmt ausgehoben, viele aber ganz gesund und unverletzt gefunden. Von vielen war nur das Halbe, von mehreren aber das ganze Haus ergriffen und mitgeführt. Einige wussten von der Begebenheit nichts, obschon sie in ihrer Behausung entführt waren; andere schliefen noch, da sie schon begraben waren.

Viele konnten es nicht fassen, warum die Nacht so lang, und der Tag noch nicht angebrochen war; als sie aber gewahr wurden, dass ihre Fenster und Thüren vom Schnee verammelt waren, besannen sie sich erst, was ihnen begegnet seyn musste.

In welchem Umstand der Betrübniss mussten nicht jene gewesen seyn, die wirklich im Schnee, oder zerquätscht und verengt da liegen und verzagen mussten? Der Anblick des Gefundenen und Vermissten, des Glückes und Unglückes, des Todes und Lebens muss erschröcklich gewesen seyn.

Nachdem die Einwohner des Thals von dem Unglück benachrichtigt waren, liefen sie dahin. Weil aber die Lauine eine beträchtliche Strecke Landes einnahm, so wusste man nicht, wo man hingraben sollte, um Leuthe und Vieh zu gewinnen. Man bediente sich der langen und spitzigen Stangen, um die Lauine durchzustechen. – Man erzählt dabey, dass die Verunglückten die Stimmen der Arbeiter hörten, diese aber die Stimmen der andern nicht, bis die Lauine nicht ganz durchgestochen war. Man musste dabey mit aller Vorsicht zu Werke gehen, damit man nicht erst jenes tödete, was noch am Leben war. Kurz: dies war die schröcklichste Scene, die jemals im Tavätsch sich zutrug.» (Chur, Kantonsbibliothek, Ms. B. 43 I, pp. 44 ff.)
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Quelle Christian Rohr: Leben mit dem «Weissen Tod». Zum Umgang mit Lawinen in Graubünden seit der Frühen Neuzeit. Bündner Kalender, 174. Jahrgang (2015), 52-59
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